Ich habe ja neben Kunstgeschichte auch Skandinavistik studiert und bin daher sehr interessiert an skandinavischen Geschichten. Deshalb wollte ich das Stück des Jungen Theaters „Das Kind der Seehundfrau“ auf jeden Fall sehen, als ich es letztes Jahr im Spielzeitheft entdeckt habe. Und wenn der Hauptdarsteller mit dir in die Schule gegangen und der Regisseur ein Freund von dir ist, dann ist doch klar, dass man sich das Stück angucken muss, oder?

Im hohen Norden, wo es im Sommer „weiße Nächte“ gibt, also die Sonne nie untergeht, und im Winter nicht mehr hell, lebt ein Jäger und Fischer. Umgeben von ewigem Eis, Fischen und Seehunden. Der Fischer ist einsam und hat sich an seine Umgebung angepasst, auch seine Gefühle sind quasi eingefroren. Auf einer seiner Fischfahrten hört er dann aber Geräusche, als er ihnen folgt, sieht er auf einem Felsen wunderschön, nackte Frauen. Die Frauen haben ihre Seehundfelle abgelegt und Menschengestalt angenommen. Der Fischer verliebt sich in die schönste Dame und versteckt ihr Fell. Er bittet sich seine Frau zu werden und sie stimmt zu – unter einer Bedingung: in sieben Jahren muss er ihr das Fell zurückgeben. Der Fischer verspricht es. Sie bekommen zusammen einen Sohn, Oruk, und leben glücklich und zufrieden. Sieben Jahre lang. Dann wird die Seehundfrau krank und immer kränker. Während Oruk sich es nicht erklären kann, warum seine Mutter immer kränker wird und wieso sein Vater nichts dagegen tut, weigert sich der Vater das Fell zurückzugeben. Er kommt immer seltener nach Hause, flieht regelrecht auf seine Fischzüge. Oruk macht sich auf, um seiner Mutter zu helfen. Schließlich muss sich Oruk entscheiden…

Die Geschichte von Sophie Kassies in der Übersetzung von Eva Maria Pieper geht auf die Legende der Selkies zurück. Diese besagt, dass Selkies magische Wesen in Seehundgestalt sind, die zu Menschen werden können, wenn sie ihr Fell ablegen. Sie müssen aber nach einer bestimmten Zeit wieder in ihren natürlichen Lebensraum, das Meer, zurückkehren. Es gibt unterschiedliche Angaben darüber wie oft sich ein Selkie wandeln kann. Da sie sich immer wieder in ihre Seehundgestalt zurückverwandeln müssen, enden die Geschichten meist traurig. 

 

So ist es auch beim Stück in Konstanz. Das hat mich ein bisschen ratlos zurückgelassen, weil sich Oruk für mich zu schnell entschieden hat, wo er leben möchte. Natürlich geht es im Theaterstück um die Entwicklung der Figuren und der Geschichte, aber das ging mir ein bisschen zu schnell. Aber vielleicht ist das für Kinder auch gar kein Problem und ich meine Gedanken sind zu kompliziert. Ich habe dieses Problem auch oft bei Büchern, dass mir Entscheidungen am Ende dann zu schnell gehen. Das ist aber für mich auch der einzige Kritikpunkt an der Inszenierung. Das spannende und reduzierte Bühnenbild, das mit Papierbahnen das Ewige Eis darstellt und eine schöne Projektionsfläche für die Unterwasserwelt ist, fügt sich wunderbar ein in die Geschichte und lässt Raum für die direkte Interaktion zwischen den Hauptfiguren. Durch die Beleuchtung entstanden immer wieder neue Welten, das ewige Eis oder die Unterwasserwelt oder das Heim der Fischersfamilie. Auch bei den Kostümen ist die Umsetzung sparsam, lenkt nicht ab und doch ist immer klar welche Figur gerade auf der Bühne steht. Bewundernswert finde ich immer, dass sich die Schauspieler nicht von den Reaktionen der Kinder aus der Ruhe bringen lassen. Als ich mir das Stück angeguckt habe, waren recht unruhige und vorpubertäre Kids da, die jedes Mal bei der Erwähnung des Worts „nackig“ einen Lachanfall bekommen haben. 

Sehr spannend zu sehen war wie die grönländische Sängerin und Schauspielerin Kimmernaq Kjeldsen gespielt und mit den anderen Personen interagiert hat. Das zeigt, dass Theaterspielen und Musik universell sind. Dass man toll zusammenarbeiten kann, auch wenn man nicht dieselbe Sprache spricht und wunderbar miteinander arbeiten kann, auch wenn man aus unterschiedlichen Regionen und Kulturen kommt. Sie hat eine klare, kraftvolle Stimme und obwohl ich keine Ahnung habe, was der Inhalt ihrer Lieder war, hatte man Gänsehaut wenn sie gesungen hat.  Auch Gregor Müller überzeugte völlig in seiner Darstellung der beiden Persönlichkeiten Fischer und Oruk. Spannend, dass einem guten Schauspieler eine Mütze ausreicht, um klarzustellen in welcher Rolle er gerade steckt. Die Musiker will ich nicht unerwähnt lassen, die einerseits natürlich die musikalische Unterstützung für die Sängerin waren, andererseits auch eine Art „Watson“-Figur fürs Publikum darstellten. Sie übersetzten und gaben neue Impulse, um die Geschichte voranzutreiben. 

„Das Kind der Seehundfrau“ ist eine zauberhafte, anmutige, mutmachende, aber auch traurige Geschichte über Familie, Loslassen, Liebe, Erwachsenwerden und darüber die richtigen, wenn auch manchmal schmerzhaften, Entscheidungen zu treffen. Unbedingt angucken!

 

© Fotos: Bjørn Jansen